Stadt des Figurentheaters: FIDENA holt internationale Figurenspieler nach Bochum

Das ist schon ungeheuerlich, das ist die FIDENA: Ein Nilpferd stapft aus dem Foyer des Bochumer Musikforums und gebärt sein Junges auf dem Vorplatz.
Ein andermal öffnet ein meterhoher Schmetterling die Schwingen. Gefolgsleute mit Trommeln und Trompeten begleiten die Giganten durch die Stadt. Bei der Parade des Figurentheaters der Nationen – kurz „FIDENA“ – ist das real, alles analog hier. Dabei machen sich die Bochumer Institutionen des Figurentheaters schon eine Weile auf den Weg in digitale Bühnenwelten. Das Deutsche Forum für Figurentheater und Puppenspielkunst (dfp) entwickelte mit Puppets 4.0 ein „imaginäres Museum“, weil die Mittel für eine echte Vitrinen-Schau nicht reichten. Mit 3D-Aufnahmen von 56 Figuren und Puppen aus der 200 Exponate großen Fritz-Wortelmann-Sammlung schufen die Kreativen fünf digitale Räume: vom deutschen Wald auf einen altertümlichen Marktplatz, zum indonesischen Basar, in einen asiatischen Tempel und zurück in den Raum des dfp. Mittels Brille taucht der Besucher in diese virtuelle Realität (VR) ein und kann mit Figuren und Objekten interagieren. „Mein Lieblingsraum ist Asien, da hörst du erst von irgendwoher Stimmen und einen Gong. Du wirst schon durch die Klangkulisse dorthin versetzt“, schildert dfp-Leiterin Annette Dabs. Das VR-Museum ist mittlerweile auch im Ausland gefragt.
Sohn eines Bergwerkunternehmers gründete FIDENA
Hauptfigur im deutschen Wald des VR-Museums ist die Marionette nach Abbild des Bochumers Fritz Wortelmann. Der Sohn eines Bergwerkunternehmers entflammte schon in jungen Jahren für das Puppenspiel. Er gilt als Gründungsvater der Bochumer Institutionen, die das Figurentheater bis heute von hier aus weit nach Europa erstrahlen lassen.
Bereits in den 1920er-Jahren engagierte sich Wortelmann als Schüler für das kulturelle Leben in der Stadt. Er absolvierte ein theaterwissenschaftliches Studium, gründete eine Handpuppenbühne, arbeitete später als Dramaturg am Stadttheater Bochum/Duisburg. In Bochum gründete Wortelmann 1950 das „Deutsche Institut für Puppenspiel“ (DIP), das fortan die „Deutsche Puppentheaterwoche“ in Kassel mitorganisierte. 1959 folgte der „Preis der Stadt Bochum für Laienpuppenspiel“, der heute als „FRITZ“ und ältester Kulturpreis der Stadt professionelles Figurentheater und Amateure auszeichnet. Zeitgleich etablierte Wortelmann das Festival „Meister des Puppenspiels“ in Bochum, heute die „FIDENA“.
Digitales Figurentheater erzählt Liebesgeschichten aus Langendreer
Auch das Figurentheater-Kolleg (FT-K) in Langendreer ging aus Fritz Wortelmanns Institut hervor. Seine Figurentheaterschule entstand 1977. Bis heute genießt die Institution als einzige staatlich anerkannte Adresse für Weiterbildung im Figurentheater auch im Ausland Ansehen. Seta Guetsoyan, die das Kolleg seit 2019 leitet, arbeitet aktuell mit ihrem Team daran, die Lehre des Kollegs an die digitalisierte Gesellschaft anzudocken. „Wir haben uns auf eine Forschungsreise begeben, um zu erkunden, wie wir digitale Tools unterrichten können und was wir unterrichten sollten. Wir haben bereits erste didaktische Formen entwickelt, etwa zum Einsatz von Mechatronik in den ,Digitalen Kreaturen’ oder von 3D-Druck. Es gehört auch dazu, kritisch zu hinterfragen, welchen künstlerischen Mehrwert diese Techniken für das Figurentheater entwickeln können, welche neuen digitalen Dramaturgien entstehen können“, so Guetsoyan.
Greifbar für die Bochumer wurde die Freude an der Innovation im Finale des Parkstreifen-Projekts „L.A. Love“ im Volkspark Langendreer. Im März 2022 erlebten die Besucher innovative 3D-Videokunst verbunden mit klassischem Puppenspiel. Als Medium diente ein großer Leinwand-Kubus, um dem Publikum die wahren Liebesgeschichten von Menschen aus dem Stadtteil zu erzählen. Auf der Wiese luden zwölf Stelen dazu ein, die Hauptdarsteller des Films mit Hilfe von Augmented Reality (erweiterter Realität) kennenzulernen. Konkret hieß das: Der Besucher konnte an jeder Stele mittels Smartphone einen QR-Code aufrufen. Und plötzlich erschien auf dem Display eine Figur, die scheinbar direkt auf der Wiese stand – zum Beispiel Michel, der nach seiner ersten Liebe Sabrina niemals eine neue fand.
Dies sind nur kleine Ausschnitte aus dem breiten Repertoire des Figurentheaters. Denn es müssen gar nicht immer Figuren im Sinne von Personen oder Tieren sein. Im verwandten Objekt- und Materialtheater werden zum Beispiel Maschinen oder geometrische Körper zu Mitspielern. Annette Dabs, die das dfp und die „FIDENA“ im 25. Jahr leitet, ist bis heute begeistert von der überbordenden Fantasie in diesen Kunstformen. Aber auch die besondere Geschichte von Bochum und dem Figurentheater, die nun schon 100 Jahre währt, waren für sie ein Grund zu bleiben. „Bochum hat mit der Geschichte, dem Festival und den beiden Institutionen ein Alleinstellungsmerkmal. Um so etwas in der Art noch einmal in Europa zu finden, muss man schon suchen“, so die Leiterin des dfp.
Ginge es nach Annette Dabs und Seta Guetsoyan bekäme Bochum eine eigene Bühne, ein europäisches Produktionszentrum für Figurentheater. Dort könnte dann viel öfter die Kunst erstrahlen, an die Fritz Wortelmann einst sein Herz verlor. Denn Bochum ist eine Stadt des Figurentheaters.